Evangelisches Bildungswerk München e.V.

Buch des Monats: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war?

Portrait von Sabine Bachmair

Quelle: Sabine Bachmair

rezensiert von Sabine Bachmair

Autor: Joachim Meyerhoff, erschienen bei Kiepenheuer & Witsch 2013; 351 Seiten

„Selten habe ich so begeistert ein Buch wie dieses gelesen! Abends konnte ich es kaum erwarten mich endlich in die Schmökerecke zurückzuziehen und den Rest der Welt für ein paar Stunden draußen vor zu lassen.
Was hat mich so in Bann gezogen? Es ist (zunächst) die Geschichte eines eigenwilligen, jähzornigen und sehr liebenswerten Jungen, der wegen seiner Zornattacken von seinen Brüdern spöttisch „die blonde Bombe“ genannt wird. Er liebt und verehrt seinen komischen, dicklichen und allseits beliebten Vater, er erträgt seine älteren besserwisserischen Brüder und die leicht exzentrische Mutter, er küsst mit Hingabe den sabbernden Familienhund und schließt mit diesem Blutsbrüderschaft und er liebt die alte Villa, in der die Familie lebt.
Dem Autor gelingt es in kurzweiligen, chronologisch aufgebauten Anekdoten seine ungewöhnliche Kindheit zu erzählen, die freilich später unweigerlich ins junge Erwachsenenalter übergeht, und er erfindet phantasievolle Überschriften wie „das Kaffeekränzchen“, „eine Katze im Querschnitt“, „der Seemann und die Nonne“.
Neugierig? Seine Sprache ist bunt und flüssig und beim Beschreiben seiner Protagonisten gelingen ihm treffsichere, amüsante und zuweilen sehr witzige Schilderungen, dass man meint, dabei gewesen zu sein. Gelegentlich kringelte ich mich vor Lachen, obwohl unsere innere Ethik es eigentlich verbietet. Warum?
Der kleine Josse, so sein Spitzname, wächst nämlich inmitten einer riesigen kinder- und jugendpsychiatrischen Anstalt in der Nähe von Kiel auf. Die Familienvilla steht zentral im Gelände, sein Vater ist der Direktor und leitende Arzt mit guten Kontakten zur Politik. Es riecht nach Kantinenessen, nach Linoleum und nach Pipi und die nächtlichen Schreie der Patienten wiegen ihn vertraut in den Schlaf. Er liebt diese ungewöhnliche Lebenssituation und kann später woanders nur schwer in den Schlaf finden ohne das Stöhnen und Schreien der Patienten. Sie vermitteln ihm Unterhaltung und Geborgenheit zugleich. Seine kindliche Sichtweise lässt ihn völlig unbekümmert über die jungen Patienten sprechen. Weder deformierte Köpfe und Gestalten, weder tickhaftes Verhalten noch einschüchternde Laute erschrecken den kleinen Joachim. Niemals kommt beim Leser Unwohlsein wegen der Patienten auf. Niemals macht er sich lustig über sie, niemals verletzt er ihre Würde und Intimsphäre. Er beschreibt ausschließlich seine kindlichen Wahrnehmungen und bastelt sich so ein ungewöhnliches Weltbild. Aber er lebt ja auch mit einer ungewöhnlichen Familie, so schräg wie manche Patienten sind, sind auch die Familienmitglieder. Ein Bruder ist notorischer Besserwisser und nervt damit heftig, der andere Bruder empfängt seine Mädels zwischen blubbernden Aquarien, die Mutter bäckt maulend Apfelkuchen für die einzigen Geburtstagsgäste des Vaters, der alljährlich die immer gleichen fünf jungen „Bekloppten“ einlädt. Das „Kaffeekränzchen“ ist eine der schönsten Schilderungen des ganzen Buches. Beim feierlichen Besuch des Ministers Stoltenberg auf dem Gelände brüllt plötzlich einer der jungen Insassen, der keine Lust mehr hat im Anstaltschor zu jubilieren „Hände hoch oder ich schieße!“ und löst damit unter den Bodyguards fast eine Katastrophe aus. Der rote Rudi rennt davon, der Minister schlägt der Länge nach auf den matschigen Boden (er misst stolze 2,14 m!), der Hund jault und der Minister muss anschließend getrocknet und gebügelt werden. Bei einer Tasse Tee im Wohnzimmer unterhält er sich trefflich im Schoße der Familie.
Freilich wendet sich mit zunehmendem Alter das Blättchen (siehe Titel!), also das Schicksal der Familie. Kaum etwas bleibt, wie es ist, aber – lesen Sie selbst!

Herr Meyerhoff ist Wiener Burgschauspieler geworden und hat aus diesem Buch abendelang vor ausverkauftem Haus vorgetragen, wohl besser: vorgespielt! Ach, wären wir doch dabei gewesen! Mittlerweile müssten wir ihm nach Berlin ans Deutsche Schauspielhaus nachreisen…“

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