Evangelisches Bildungswerk München e.V.

Aus der Geschäftsstelle

  1. November – die Liebe hört niemals auf
    Ein verregneter Novembermorgen. Das Laub liegt nass und schwer auf den Bürgersteigen. In der Straßenbahn sitzt eine Studentin. Sie schaut immer wieder zu einem älteren Mann mit Hut. Der hält einen Strauß weißer Rosen in der Hand. Sie zählt die Blumen. Sechsundsiebzig sind es.
    Der Mann bemerkt die Blicke der jungen Frau.
    „Gestatten, Lindner.“ Er lüpft seinen Hut. „Gefällt Ihnen der Strauß?“
    Die Studentin zuckt zusammen, fühlt sich ertappt.
    „Ähm, ja, der ist sehr schön.“
    „Ja“, sagt Herr Lindner, „der ist für meine Frau!“
    Die Studentin lächelt, dann schweigen sie.
    „Darf ich Sie um Ihren Namen fragen?“, nimmt Herr Lindner den Gesprächsfaden wieder auf.
    „Äh, ja, ich heiße Julia.“
    „Wissen Sie was, Julia? Ich schenke Ihnen den Strauß.“
    Die Studentin sieht den Mann zweifelnd an.
    „Nein, das geht nicht. Der ist doch für Ihre Frau!“
    Die Straßenbahn hält, neue Fahrgäste steigen ein.
    „Ach, wissen Sie“, fährt Herr Lindner fort, „ich glaube, meine Frau freut sich, wenn ich jemand anderem eine Freude mache!“
    Er erzählt Julia von seiner Frau.
    „Ihr ist es wichtig, sich nicht nur um sich selbst zu drehen. Für andere da zu sein, die Freude anderer zu erleben, das ist das größte Glück, sagt sie.“
    Die Studentin schaut Herrn Lindner verdutzt an, als er ihr den Strauß in die Hand drückt. Sie riecht den himmlischen Duft der Rosen.
    „Ich werde ihr erzählen, dass ich Ihnen, Julia, den Strauß geschenkt habe.“
    Herr Lindner erhebt sich, lüpft wieder den Hut und steigt an der nächsten Haltestelle aus.
    „Friedhof“, hört sie die Durchsage. Die Straßenbahn steht noch eine Weile. Die Studentin sieht, wie Herr Lindner durch das Tor des Friedhofs auf ein Grab zugeht.
    In ihrem Wohnheim angekommen, sitzt Julia an ihrem Schreibtisch. Sie kann sich nicht auf ihre Seminararbeit konzentrieren. Die Begegnung mit Herrn Lindner lässt ihr keine Ruhe. Am Nachmittag fährt sie zum Friedhof, geht zu dem Grab.
    Ursula Lindner, liest sie auf dem Travertinstein. 1938-2013. Außer dem Namen und den beiden Jahreszahlen ist nur noch ein Satz eingraviert: Die Liebe hört niemals auf.
    Nachdenklich geht sie zum Wohnheim zurück. Eine Weile sitzt sie vor dem Rosenstrauß, dann fasst sie einen Entschluss.
    Auf dem Weg zu ihrem Wohnheim kommt sie immer an einer alten Kaserne vorbei, in der jetzt Flüchtlinge untergebracht sind. Sie leben dort unter schlimmen Bedingungen. Vertrieben aus Syrien und dem Irak, sind sie auf engem Raum zusammengepfercht. Heruntergekommene Zimmer, eine Toilette, vollkommen verdreckt und ramponiert, für fünfzig Leute. Mit so vielen Flüchtlingen in so kurzer Zeit hat niemand gerechnet. Die Flüchtlinge haben alles verloren. In ihrer Heimat waren sie Ärzte, Händler, Ingenieure. Anerkannt und in ihren Familien geborgen. Viele beklagen den Tod von Angehörigen, die dem Terror zum Opfer gefallen sind. Sie sind traumatisiert, haben Folter, Vergewaltigung und öffentliche Hinrichtungen mit erlebt. Vor allem aber eins haben diese Menschen durch die Flucht verloren: Ihre Würde.
    Bisher hat Julia die Flüchtlinge mehr über die Nachrichten im Fernsehen wahrgenommen. Sie war so sehr mit Studieren beschäftigt. Aber war das nicht auch ein bisschen bequem? Ein Verdrängen des Themas? Eine Ausrede? Jetzt weiß sie, was sie tun muss. Sie kann nicht mit Geld helfen. Aber sie kann vielleicht etwas tun, um den Menschen ein bisschen Würde zurückzugeben.
    Am Eingang der Kaserne muss sie lange auf den Pförtner einreden, bis er zum Telefon greift. Dann kommt eine Mitarbeiterin des Sozialamts und geht mit ihr durch die Flure.
    Julia verteilt fünfundsiebzig weiße Rosen. Sie gibt sie den Müttern, den Töchtern. Die haben jetzt alle ein Leuchten in den Augen. Wie seit Monaten nicht mehr.
    Die letzte weiße Rose behält Julia. Sie stellt sie auf den Schreibtisch in ihrem Zimmer. Es ist dunkel geworden. Sie zündet eine Kerze an und schreibt an ihrer Seminararbeit weiter. Zwischendurch sieht sie die Gesichter der Frauen aus Syrien und dem Irak vor sich. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht.
    Die Liebe hört niemals auf.
    November – Allerheiligen, Allerseelen, Volkstrauertag, Ewigkeitssonntag.
    Eine erfüllte Zeit Ihnen
    Ihr
    Felix Leibrock
    Pfarrer, Geschäftsführer des Evangelischen Bildungswerk München
  2. P.S.: Sie sind herzlich eingeladen,
    im ebw die Ausstellung „Inklusive Bildung in Burkina Faso“ zu besuchen. Sie ist bis zum 17.12.2014 zu sehen.
    Öffnungszeiten:
    Mo bis Fr 9.00 bis 14.00 Uhr, Di 9.00 bis 18.00 Uhr
    Evangelisches Bildungswerk, Herzog-Wilhelm-Straße 24/3. Stock, 80331 München

ebw

---