Evangelisches Bildungswerk München e.V.

Buch des Monats: Die Lüge der digitalen Bildung

Cover des Buches: Die Lüge der digitalen Bildung

Redline Verlag 2015

Warum unsere Kinder das Lernen verlernen

Gerald Lembke/Ingo Leipner
Redline Verlag, 2015, 256 S.
ISBN-10: 3868815686

rezensiert von Annette Hüsken-Brüggemann, Medienreferentin des ebw

Kurzübersicht

In 13, hauptsächlich an Lebens- und Entwicklungsphasen orientierten Kapiteln führen die Autoren ihre Recherche-Ergebnisse und Erkenntnisse zu folgenden drei Fragen zusammen: Wie entwickelt sich und wie funktioniert eigentlich menschliches Denken? Wie funktionieren und wirken (digitale) Medien? Und: Was passiert und kann noch passieren, wenn beides immer früher und immer stärker aufeinander trifft? Ein Gast-Beitrag vertieft im Anschluß die Zusammenhänge nochmal aus neurobiologischer Perspektive. Zum Abschluß präsentieren die Autoren ihre Forderungen zusammgefaßt in Form eines Kurzkapitels „Unsere 10 Thesen“.
Als ihre Zielgruppe formulieren Lembke und Leipner Eltern, PädagogInnen und die alljene, die das Thema interessiert. Dementsprechend sind die rund 250 Seiten nicht akademisch-wissenschaftlich, sondern auch für Laien verständlich geschrieben. Das Buch ist andererseits aber auch kein Eltern-Ratgeber; es bietet keine Lösungen („Wie setze ich es erzieherisch um, mein Kind von Tablets fernzuhalten?“), sondern Hintergrund-Informationen. Diese sollen ein besseres Verstehen der Zusammenhänge beim Lesenden erzielen und zu einer medienkritischen Haltung führen, was den Einsatz von digitalen Medien durch Unter-12jährige angeht. Denn die Autoren sehen sich augenscheinlich als Mahner und Warner vor einer Gegenwart und Zukunft, in der der verfrühte Umgang mit digitalen Medien unkritische KonsumentInnen hervorbringt und Bildungseinrichtungen sich ohne didaktisch-durchdachte Strategie, einer Technik-Euphorie und wirtschaftlichen Anschluß-Verlustangst folgend, durchdigitalisiert haben.

Kernbotschaften des Buches

„Die Lüge in der digitalen Bildung“ ist den Autoren des gleichnamigen Buches zufolge diese:

Je früher und umfassender Kinder und Jugendliche in Elternhaus und Bildungseinrichtungen mit digitalen Medien in Berührung kommen, mit ihnen lernen, desto digital kompetenter und erfolgreicher werden sie im Erwachsenenleben sein.

Als Mann aus der Wirtschaft (und Wirtschaftswissenschaft) und Verbandsvorsitzender des Fach- und Interessensverbands für Digitale Medien und Marketing hat eigentlich auch Autor Lembke ein Interesse an digital kompetentem Nachwuchs. Allerdings kritisieren Lembke und sein Co-Autor, der Wirtschafts-Journalist Leipner, dann auch nicht generell den Einsatz von digitalen Medien in Bildungseinrichtungen.
Sondern „nur“ den Zeitpunkt und die Art und Weise.

Die Kernforderung der Autoren lautet:

Vor dem 12. Lebensjahr kein kindlicher Umgang mit digitalen Medien im Unterricht.

Diese Forderung stützen sie auf zwei Grundthesen, die sie aus Ergebnissen verschiedenster neuer und älterer* Studien, v.a. der Neurobiologie und Entwicklungspsychologie, ableiten:

  • Das kindliche Gehirn sei erst ab einem Alter von 12 Jahren überhaupt strukturell bereit, mit den Anforderungen und Dynamiken digitaler Medien fertig zu werden.
    Bemühungen von Eltern, PädagogInnen und Politik, den Kindern durch möglichst frühe Konfrontation (Lern-Apps & Co.) zu besserer digitaler Medienkompetenz und einer erfolgreichen Bildungsbiografie zu verhelfen, seien deshalb größtenteils vergebens.
    Schlimmer gar, sie sind, so die Autoren, sogar schädlich:
  • Der frühe Umgang mit digitalen Medien schade dem kindlichen Gehirn und verhindere Entwicklungen, die für gute Lern-Fähigkeit und späteren kompetenten Medienumgang aber notwendig sind.

Impuls-Kontrolle, Zusammenspiel von senso-motorischem Erleben und Gehirnentwicklung, Motivation, Anpassung… sind einige der Schlagworte, die dem/r LeserIn hier immer wieder begegnen.

Folgendes Zitat illustriert die Kern-Aussagen, die die Autoren mit diesem Buche treffen:
„[Kleine Kinder]…sollten ihre Hände verwenden, um Bilder zu malen, Knetfiguren zu formen oder Bastelarbeiten zu machen. […] Gerade präzise Handlungssequenzen der Feinmotorik lassen Synapsen aussprossen, wodurch differenzierte Verschaltungen entstehen. Dann fällt es Kindern später leicht, schreiben und lesen zu lernen. Der Umkehrschluss lautet: Wischen, tippen und klicken Kinder auf Tablets, schadet das ihrer Gehirn-Entwicklung (Teuchert-Noodt in: Lembke/Leipner 2015: 224).“

Das (digitale) Welt-Bild der Autoren

Die Autoren der „Lüge in der digitalen Bildung“ skizzieren folgendes Bild der aktuellen digitalen Situation in Deutschland:

  • Die IT-Wirtschaft will verkaufen. Deshalb stachelt sie die Politik an, die Digitalisierung von Bildungseinrichtungen so früh und so umfassend wie möglich zu fördern.
  • Die Politik, besorgt um die Anschlussfähigkeit Deutschlands als Wirtschaftsstandort von morgen, überziehen das Land unreflektiert mit pädagogisch nicht ausreichend durchdachten Maßnahmen zur Digitalisierung und „Tabletisierung“ von Grundschulen und Kindergärten.
  • Eltern sind entweder getrieben vom Wunsch, einen Nobelpreisträger heranzuziehen (S. 14 u.ä.), und tun alles, um ihrem Kind einen guten Karrierestart durch frühe Medienkompetenz zu ermöglichen – vom Fötus-Tuning (Kapitel 1) angefangen.
    Oder: Sie verfallen dem Tablet als digitalem Babysitter.
  • MedienpädagogInnen kommen trotz des Themas äußert selten zu Wort und werden als Handlanger der Politik porträtiert: Sie attestieren Kindergarten-Kindern Reflexionsfähigkeiten und Medienkompetenz, die es nach Ansicht der Autoren und der Neurologen, auf die sie sich berufen, kaum geben könne (Kapitel 3).
  • Wenn wir Computerisierung von Klassenzimmern und Kitas (weiter) zulassen, steuern wir auf eine Welt voller lern-geschädigter unkritischer KonsumentInnen zu, die nie gelernt haben, ihre Wünsche zu zügeln und die im Erwachsenenalter alles andere als reflektiert und maßvoll mit modernen Medien umgehen können.
  • Webinare/E-Learning ist selten durchdacht. Es ginge vor allem darum, Inhalte zu finden, um die Technologie anzuwenden, als die Technologie da einzusetzen, wo es für die Inhalte sinnvoll ist. Außerdem schürt E-Learning eine Zwei-Klassen-Bildung: In der digitalisierten Zukunft würde die Masse mit Video-Konserven abgespeist, während nur noch die Elite in den Genuss echter DozentInnen kommt.
  • Im Wald wird alles gut: Der PC/Tablet-Nutzung der Unter-Zwölfjährigen wird ständig gegenübergestellt, dass dem Kind hier wertvolle Zeit im Wald verloren gehe. Dem Ort, wo es nach Ansicht der Autoren am besten die senso-motorischen (Selbst)-Erfahrungen machen könne, welche die altersgerechte Gehirnentwicklung auf optimale Weise anregen.

(Stil)-Kritik

Klingt überzogen? Überdramatisiert? Genau so wirkt m.E. ein wenig der Stil des gesamten Buches.
Das ist vermutlich dem Wunsch geschuldet, die Kernbotschaften auch dem/r nicht akademisch-vorgeprägten oder -interessierten LeserIn verständlich und vor allem einprägsam zu vermitteln.
Ein wenig schießen die Autoren damit aber möglicherweise über ihr Ziel hinaus.
Denn wer damit beschäftigt ist, dramatisierende Formulierungen, Untertöne, Pauschalisierungen (Verteufelung der IT-Branche, Verherrlichung des Spiel-Raums Wald – Wie sollen sich Stadt-Kinder bloß ordentlich entwickeln??? – , u. ä.) und regelmäßig wiederkehrende Werbung für den Gast-Beitrag am Ende auszublenden, der/die ist eventuell für den Wert der in der Argumentation enthaltenen Fakten weniger aufnahmefähig.

Und es steckt ja einiges drin, was nachdenklich macht, was aufatmen lässt, was hilft, eine eigene Haltung gegenüber digitalen Medien in der Erziehung zu formulieren (vor allem in den mittleren Kapiteln 4-10).
Es dürfte vermutlich allerdings nicht ausreichen, Eltern darauf hinzuweisen, dass bewegungsaktives, nicht zielorientiertes Spielen gut ist und zu viel PC-Zeit schlecht.

Die Kernfrage, mit der Eltern, die mit diesem Buch eine Bestätigung erhalten für eine „weniger Medien ist mehr“ Haltung, zurückbleiben, ist doch die: Wie soll man das in einer digital-medialisierten Welt erzieherisch durchsetzen?
Außerdem vermitteln die Autoren den Eindruck, ein Tablet in Kindergartenkinder-Händen sei per se schädlich. Sie vergleichen Real-Welt-Erfahrung gegenüber der Tablet-Nutzung mit dem Essen der Eiscreme statt dem Knabbern an der Eiskarte. Eine zugegeben originelle und überzeugende Verbildlichung des Problems.
Aber ist nicht auch das Lesen eines Buches nur ein 2-D Erlebnis? Eltern wird suggeriert, dass der Einsatz eines Tablets in der Eltern-Kind-Beziehung die kognitive Entwicklung ihres Kindes gefährden könnte. Letztlich kommt es jedoch wohl eher auf die Art des Einsatzes an: Wenn abends statt eines Buches gemeinsam heutzutage eine interaktive Tablet-Geschichte gelesen wird, dann frisst das Tablet hier keine kostbare Real-Welt-Erfahrungs-Zeit im Wald. Betonung auf „gemeinsam“.

In ihrem Vorwort wünschen sich die Autoren von den Eltern und für sie und ihre Kinder mehr Gelassenheit, und weniger Perfektion und Optimierung (S. 9).
Die Frage ist, tragen sie mit ihrem Buch nicht auch ein bisschen dazu bei, den „Perfektierungs“-Hype zu stärken? Indem sie in die gleiche Kerbe hauen, wie viele es neben ihnen gerade tun, die Helikopter-Eltern, Generation Overprepared u.ä. analysieren und anprangern? Wird so die Existenz dieses Eltern-Typs eventuell nicht erst mit heraufbeschworen? Die Henne-und-Ei-Frage: Wie groß ist das gesellschaftliche Phänomen „Optimierer-Eltern“ im Vergleich zu seiner Präsenz in den Medien?

Die Medienpädagogik des ebw empfiehlt für die Lektüre dieses Buches und anderer medialer Veröffentlichungen zum Thema Erziehung das Gleiche wie Lembke/Leipner:

Lesen Sie´s mit Gelassenheit.

 
 

*LeserInnen mit pädagogischem, psychologischem o.ä. Hintergrund dürfte hier v.a. Jean Piaget bekannt vorkommen. Seine Stufen der kognitiven Entwicklung bilden einen Grundpfeiler der Argumentation der Autoren.

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