Evangelisches Bildungswerk München e.V.

Aus der Geschäftsstelle

Kamel an der Tafel

Ein Sprachkurs für Menschen, die aus Syrien geflohen sind. Eine Frau jenseits der fünfzig nimmt teil. Sie ist Analphabetin. Wo sie aufgewachsen ist, gab es fast keine Schulen. Sie muss also Lesen und Schreiben lernen. Und dann auch noch die schwierige deutsche Sprache.
Sie soll das Wort „Kamel“ an die Tafel schreiben. Etwas weiter links auf der Tafel steht das Wort bereits. Mit dem Augenwinkel schielt sie dahin und schreibt das Wort ab. Manche Buchstaben malt sie spiegelbildlich verkehrt. Sie braucht lange.
Diese Frau, so erfahre ich, war das Zentrum ihrer Familie in Aleppo. Sie hat alle bekocht, Kleider genäht, war Beraterin in allen Lebenslagen für Kinder und Enkel. Sie hat sich wohl gefühlt. Bis die Bomben und Gewehre kamen. Sie hatte die Wahl, irgendwann in den Trümmern ihres Hauses zu sterben oder mit ihrer Familie zu fliehen. Jetzt ist sie hier. In einem fremden Land. Und schreibt mit zitternder Hand Kamel an die Tafel. Diese Frau möchte nach Syrien zurück. Sie möchte wieder ihr altes Leben haben. Friede in Syrien. Das ist der größte Wunsch dieser Frau.
Sie teilt den Wunsch mit vielen Landsleuten. Ich kenne einen Apotheker aus Aleppo, der stolz auf ein Foto seiner Apotheke mit den kleinteiligen Holzschränken zeigt. Damals, als sie noch nicht in Trümmer gebombt war. Ein Seidenwarenhändler aus Damaskus zeigt Bilder von den bunten Stoffen, die er angeboten hat. Damals, bevor sein Laden niederbrannte. Überall steht ein Wunsch an erster Stelle: Ein friedliches Syrien, in das sie zurückkehren und das sie wieder aufbauen. Aber solange diese Option nicht besteht, muss sich bei uns eine Perspektive auftun. Dazu gehören Deutschkurse und kulturelle Bildung. Denn ohne Perspektive kann niemand leben.

Einen schönen Herbst Ihnen allen

Felix Leibrock
Geschäftsführer des Evangelischen Bildungswerks, Pfarrer

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