Evangelisches Bildungswerk München e.V.

Aus der Geschäftsstelle

Immer andere Frauen

Der Junge ist acht Jahre alt. Er sitzt neben mir in einer Dorfkirche. Es ist Heiligabend. Gleich beginnt das Krippenspiel. Der Junge spielt den Josef.
„Bist du aufgeregt?“, frage ich ihn.
Er schnauft kräftig.
„Nein“, sagt er. „Aber …“
„Aber was?“ Ich merke, dass ihm etwas auf dem Herzen liegt. Es dauert ein bisschen, dann rückt er mit der Sprache heraus.
„Jedes Jahr geben die mir eine andere Frau!“
Er schaut mich leicht verzweifelt an. Schnell ist mir klar, wie er es meint. „Die“, das sind die Erwachsenen, die das Krippenspiel organisieren. Und alle Mädchen im Dorf wollen die Maria spielen. Darum besetzen „die“ jedes Jahr die Rolle der Maria neu, damit jedes Mädchen im Dorf mal mit der Hauptrolle dran kommt. Für den Josef aber gibt es nur den einen Kandidaten. Und der hat deswegen jedes Jahr eine andere Maria als Frau.
„Aber ist das nicht schön, jedes Jahr eine neue Frau zu haben?“, frage ich den Jungen.
Er bläst die Backen auf.
„Das ist stressig“, sagt er. „Und nächstes Jahr wird’s noch schlimmer!“
Auf seiner Stirn zeigen sich Sorgenrillen.
„Noch schlimmer? Wieso?“, frage ich.
„Nächstes Jahr, da wollen die, dass meine Schwester meine Frau ist!“
Weihnachten ist für den Jungen Stress. Nur für ihn?
Stress entsteht, weil wir uns Dinge zumuten, die uns überfordern. Zum Beispiel Besuche an Weihnachten machen, die wir eigentlich nicht wollen. Oder Karten schreiben an Leute, mit denen uns fast nichts mehr verbindet. Oder … Wir alle haben da unsere ganz persönlichen Stressoren. Wir erleiden Weihnachten, behauptet ein Psychologe. Ich muss, ich muss, ich muss, sagt uns vor und an Weihnachten eine innere Stimme. Wir wollen niemand anderen enttäuschen, tun Dinge schon immer so oder fühlen uns verpflichtet. Nicht einfach, das zu ändern.
Mir helfen in solchen Situationen manchmal Listen, die ich mit Hand aufschreibe. Zu Beginn der Weihnachtszeit wäre das eine Liste potenzieller Stressoren. Ich visualisiere mir, was mich belastet. Und dann gebe ich Noten: Von „sehr stressend“ über „geht eigentlich“ bis „darauf freue ich mich“. Bei „sehr stressend“ versuche ich dann, an den Stellschrauben zu drehen und auch mal was sein zu lassen. Der Gedankenbrei bekommt mit dieser Liste Konturen. Ich bin in der Lage, Prioritäten zu setzen.
Dem Jungen, der dieses Jahr beim Krippenspiel seine Schwester zur Frau bekommt, hilft das wenig. Ich befürchte, er muss da durch. Es sei denn, er hat schon umgesetzt, was er mir letztes Jahr beim Abschied ankündigte: Irgendwann können die sich einen andern Josef suchen!

Eine gute Adventszeit Ihnen, herzliche Grüße
Felix Leibrock
Geschäftsführer des ebw, Pfarrer, Autor

Wenn Sie wissen möchten, wer sich hinter den Kürzeln (hinter den Überschriften) verbirgt, hier finden Sie die Lösung:
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