Evangelisches Bildungswerk München e.V.

Buch des Monats: Was uns erinnern lässt.

Kati Naumann: Was uns erinnern lässt. Roman, Hamburg, HarperCollins, 2019. 419S., € 20,00, ISBN 978-3-95967


Skandal im Sperrbezirk – ganz anders

Deutsche Mittelgebirge sind nicht nur Naturdenkmäler. Sie sind auch Orte der Ideengeschichte, der politischen Geschichte und emotionale Heimat. Dass das auch für den Thüringer Wald und den ihn überziehenden Rennsteig gilt, wird einem in Kati Naumanns Roman auf beeindruckende Weise deutlich. Nach dem Zweiten Weltkrieg entsteht mit der Gründung der DDR direkt an der innerdeutschen Grenze ein Sperrgebiet, das das vorher beliebte Hotel Waldeshöh immer mehr in einen Dornröschenschlaf verfallen lässt. 40 Jahre später, im Jahre 2017, entdeckt die Mutter eines pubertierenden Jungen, die entlegene und verwunschene Ort hobbymäßig sucht (lost places), in fast archäologischer Manier den zugewachsenen Keller des Hotels, mitsamt Dokumenten. Wer waren die Menschen, die in dem Hotel früher gelebt haben? Was sind die historischen Zusammenhänge? Wo und wie leben die ehemaligen Betreiber des Hotels heute? Eine packende Familien-, Entdeckungs- und Heimatgeschichte nimmt ihren Lauf.
Kati Naumann versteht es, Geschichte anschaulich zu machen. Geschickt verknüpft sie zwei Handlungsstränge aus Vergangenheit und Gegenwart und baut so eine Spannung auf, die sich das ganze Buch über durchhält. Den Wald als Schauplatz schildert sie so empathisch und anrührend, aber auch unheimlich, dass ich mich an meine frühen Lektüreerlebnisse erinnert gefühlt habe (zum Beispiel Karl May, Das Buschgespenst). Faszinierend, wie die Autorin immer wieder die Wechselwirkung zwischen Wald und Mensch herstellt (S.51: „Arno sagte auch darauf nichts und blieb still. Und dann merkte Johanna, dass er nicht der einzige war, der schwieg. Der Wald rauschte nicht mehr.“). Überhaupt begeistern mich die sprachlichen Bilder, der souveräne Duktus des Buches, die Symbolik, zum Beispiel der karge und doch so vielsagende Satz über den aus dem Krieg mehr oder weniger stumm zurückgekehrten Familienvater: „Arno schien nicht nur der Anzug, sondern sein ganzes Leben zu groß geworden zu sein.“ (S.66).
Ein deutsch-deutsches Buch, das 30 Jahre nach der Grenzöffnung zeigt, wie unterschiedlich die Lebenswelten waren, die sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg in beiden Teilen Deutschlands entwickelt haben. Vor allem, wie hart es war, wenn man zufällig dort wohnte, wo die Alliierten künstliche Grenzen zogen und Orte im Sperrgebiet der DDR dem Untergang geweiht waren. Was das für die Bewohner*innen bedeutete, wird in ergreifender Weise in diesem Buch deutlich. Für mich das bisher beste Buch im Jahr 2019.

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